Aufbruch ins Ungeschaute
Irène Wydler ist vor allem Zeichnerin und pflegt auch verschiedene Hoch- und Tiefdruckverfahren. So entstehen Radierungen, Lithographien und Holzschnitte. Ihre Zeichentechnik, mit einem das Motiv einkreisenden vibrierenden Strich, versetzt Landschaften, Architekturen, Dinge und Figuren in Bewegung. Seismographische Aufzeichnungen zeigen eine Wirklichkeit hinter dem Sichtbaren und Alltäglichen. Im vermeintlich Vertrauten erscheinen weitere Ebenen, eröffnen sich neue Sichtweisen. In letzter Zeit entstehen vielteilige Installationen mit Bildern und Objekten. Sie fassen, wie in Irène Wydlers Ausstellung 2011 im Projektraum Apropos in Luzern, eine ganze Wand zu einer Landkarte mit verschiedensten Stationen und Bezügen, mit Orientierungspunkten für eine Reise in die Tiefe.
Bei einem Berlin-Aufenthalt 2012 faszinierte die Künstlerin die Spree, an der sie logierte. Der Fluss verband sich mit den Spiegelungen von Häusern und Uferpartien. Irène Wydler entdeckte „Widersprüchliches und Verbindendes, Verdichtung und Leere, Koordinationspunkte und minime Verschiebungen“. Alles wurde vom fliessenden Wasser in ständige Bewegung versetzt. Es bildeten sich „Geschichten, die ihren eigenen Ort mitführen, sich dauernd verändern und neu formen“. Diese flüchtigen Eindrücke hielt Irène Wydler vor Ort im Skizzenbuch fest. Im Luzerner Atelier entstanden nach der Rückkehr Holzschnitte, bei denen Motive von mehreren Druckstöcken auf einem Blatt zueinander in Beziehung gesetzt werden. Fragmente der Geschichten tauchen als Inseln aus dem Fluss. „Erträumtes und Erscheinungen“ fügen sich selbstverständlich ein. Irène Wydler zeigt sich auch hier als die Geschichtenerzählerin, die sie seit ihren frühen Farbstiftzeichnungen ist, die zwischen Realität und Traum changieren. Den Tanz auf Messers Schneide zwischen Beobachtung und Vision, den sie schon in ihrem Beitrag für Otto Odermatts Innerschweizer Almanach 1976 virtuos beherrschte, dreht sie weiter in ihren aktuellen Arbeiten.
Ähnliche Konstellationen wie in Berlin fand Irène Wydler auch im ländlich geprägten Umfeld Obwaldens. Ihre Werkgruppe „Allmende“ entstand für die Ausstellung „Leise Reise“ 2012 im Museum Bruder Klaus Sachseln. Sie liess sich von den Heuschobern auf der Sachsler Allmend anregen und fand ihre eigenen Konstellationen der archaischen Hausformen, die wie Pfahlwurzeln in den Grund loteten oder als Wegweiser wirkten und an die Vorläufigkeit jeder Reise und jeder Bleibe erinnerten. Irène Wydler stösst in Stadt und Land auf Bilder für ihr Thema, die Flüchtigkeit und Relativität jeder Existenz. Sie setzt ihre Marken dagegen, antwortet mit Ruhe und Bewegung.
Irène Wydler sucht nicht den Effekt. Sie entdeckt Sensationen im Alltag. Ausgangspunkte ihrer Arbeiten bleiben die unmittelbare Umwelt, die ganzheitliche Sicht auf Phänomene in der Natur, auf Behausungen und Behaustheit. Irène Wydlers bei aller Reduktion reiche Bildsprache fordert Zeit und Intensität im Entstehungsprozess und in der Auseinandersetzung des Betrachters, der Betrachterin mit ihren Werken. Diese sind zwar inspiriert von den Eindrücken der Künstlerin in der Aussenwelt, verweisen aber auf den inneren Ort des Aufgehoben- und Bei-sich-Seins. Diese Achtsamkeit und Hinwendung zum Naheliegenden legt wiederum die Basis für Aufbruch und Entwicklung.
Urs Sibler 2012
Publikationen der Xylon Schweiz, Mappenwerk Nr. 1, 2012