Geschichten und Erzählungen
Über die malerischen Arbeiten von Irène Wydler
Wir kennen Irène Wydler als eine bemerkenswerte Zeichnerin, die in ihrem Schaffen
die Möglichkeiten und Ausformungen der zeichnerischen Linie spielerisch und intuitiv
erforscht. Doch nicht nur in Gestus und Duktus, auch in der Tonigkeit gelingt der
Künstlerin mit dem Bleistift ein erstaunlicher Reichtum, indem sie die Möglichkeiten
und Grenzen der zeichnerischen Mittel auslotet. Verbunden ist diese Vielseitigkeit
mit der Hinwendung zu grossen Formaten, für Zeichnungen untypisch, auf denen
sie ihre Formulierungen selbstbewusst inszeniert.
Im vorliegenden Cahier vereinigt die Künstlerin nun erstmals ihre malerischen
Arbeiten, die seit ungefähr fünfzehn Jahren entstehen und sich in jüngster Zeit zu
einem Schwerpunkt ihrer künstlerischen Auseinandersetzung entwickelt haben.
Es muss für eine Zeichnerin eine besonders erfüllende Erfahrung sein, die eigene
Kunst in Farbräumen neu zu erfinden. Spürbar ist die Lust und Freude an der
Entdeckung des malerischen Prozesses. Im Unterschied zu den Zeichnungen wählt
sie für ihre Malerei ein kleines, schon beinah intimes Format. Duktus wie Gestik
ersetzt sie durch einen pastosen, fast opaken Auftrag von Farbflächen, die sie
sorgsam nebeneinandersetzt. In Öl oder Acryl, auf Holz oder auf Malkarton schafft
die Künstlerin mit diesen kleinformatigen Malereien zauberhafte Preziosen, die
jede für sich eine eigene Welt, ein kleines Universum darstellen.
«Racconti» betitelt Irène Wydler diese Werkgruppe und verknüpft somit die
Bildfindung mit der Vorstellung einer Narration, die in den Bildern zwar nicht
evident ist, aber gleichsam angelegt ist. Die Farbräume bilden eine Kulisse, in
die wir mögliche Szenerien hineinträumen sollen. Insofern schafft Wydler
Vorstellungsräume, welche unser Denken in Gang setzen. Entstehen nicht in
der Erweckung unserer Vorstellungskraft jene Geschichten und Erzählungen,
welche die Künstlerin mit der Benennung der Werkgruppe suggeriert?
Die Kompositionen dieser Miniaturen orientieren sich am Formenrepertoire
einer «magischen Abstraktion», die generell für Wydlers Werk charakteristisch
ist: Gestaffelte Flächen, Quaderfolgen, Kugeln und treppenartige Konstruktionen
bilden die Grundformen. Die Künstlerin stellt damit einen Bezug zu architek-
tonischen Elementen her, versieht diese aber mit einer überraschenden
Leichtigkeit. Für ihre Arbeit nicht untypisch oszillieren ihre Bildfindungen
zwischen Gegensätzen, suchen einen Ausgleich zwischen dem schwebenden
Luftigen und dem schweren Erdgebundenen. Es ist ihr ein Anliegen, die
vermeintlich gegensätzlichen Sphären in eine Balance zu setzen.
Für ihre zauberhaften Malereien nutzt sie ein ausgewähltes Kolorit, das an die
Kunst der Frührenaissance erinnert und einen Dialog mit der Malerei der frühen
Neuzeit aufnimmt. Irène Wydler kombiniert erdige Rottöne mit luftigem Türkis,
ein Farbklang, welcher etwa an die Werke eines Piero della Francesca erinnert.
Die Zuwendung zur Malerei der Frührenaissance findet teils auch im Formen-
repertoire ein Echo, in Schachbrettmustern und Rautenformen, aber auch in den
architektonischen Formen, die ihre Konfigurationen prägen. Andere Werke
wiederum erinnern an die Figuration des Suprematismus, an Malewitschs
Typologisierung der Figur. Irène Wydler gesteht sich dabei die Freiheit zu,
einzelne Aspekte herauszulösen und diese aufs Wesentliche zu reduzieren,
sodass sich kunsthistorische Referenzen im Werkzusammenhang auflösen.
Wydlers Bildschöpfungen sind Mikrogramme zur Malerei und ihrer Geschichte,
die aus einer intensiven Betrachtung schöpfen und auch die Erfahrungen des
eigenen Schaffens mitreflektieren. Jedenfalls ist diese Recherche verbunden
mit der Suche nach einer individuellen Formulierung.
Irène Wydler hat die Zuwendung zu einer neuen Technik stets damit verbunden,
ihre Kunst voranzutreiben und dadurch neue Sichtweisen auf das eigene Schaffen
zu finden. Dementsprechend hat sie auch als Malerin eine Serie erarbeitet, welche
sie über Jahre zu einer umfassenden Werkgruppe erweiterte, wobei die Künstlerin
stets aus der Idee der Kontinuität agiert und die Verbundenheit mit dem bestehenden
Werk beibehält. Neues steht in Bezug zum Bestehenden und immer legt sie Wert auf
diesen übergreifenden Werkzusammenhang, der die verschiedenen Aspekte ihres
Schaffens in einem Gesamtklang verschränkt.
Anlässlich eines Gesprächs in ihrem Atelier sagte Irène Wydler: «Meine Beschäftigung
mit der Malerei setzte ungefähr vor fünfzehn Jahren ein und hat sich in den letzten
Jahren nochmals intensiviert. Die Malerei ist für mich eine neue, bereichernde
Erfahrung, welche wiederum eine neue Perspektive auf meine künstlerische Arbeit
eröffnet». Verschiedentlich hat die Künstlerin ihre Praxis durch einen Medienwechsel
erweitert, um dadurch eine neue Erfahrung innerhalb ihrer Kunst zu etablieren. Diese
Adaption neuer Mittel ist eine Art Antrieb, um das eigene Schaffen für sich neu zu
entdecken. Mit den malerischen Arbeiten eröffnet die Künstlerin auch für uns
Betrachtende eine weitere bereichernde Erfahrung ihrer Kunst.
Hilar Stadler, Leiter Museum im Bellpark
in: Irène Wydler - Racconti, Museum im Bellpark, 2024