Irène Wydler

Dialog über das Sichtbare hinaus

«Notate» nennt Irène Wydler ihre Tuschemalereien aus den
letzten Jahren. Sie malt auf empfindlichem Chinapapier, mit
dem traditionellen Pinsel in allen möglichen Schattierungen,
von schwarzen Tönen über düster-braune bis zu lichterfüllten
Grautönen. Die freien und emotionalen Tuschezeichnungen
erinnern wegen ihrer Querformate an traditionelle asiatische
Rollbilder, die beinahe filmische Qualitäten entwickeln, wenn
die Künstlerin sie von Hand vor den Augen der Betrachtenden
ausrollt. So erschliessen sich diese Tuschemalereien im Sehen,
Augenblick um Augenblick, und laden ein zu einer visuellen
Reise über Landschaften, Berge, Meere und Seen. Es sind die
Weite und Offenheit dieser Zeichen oder «Notate», die berühren.
Überraschend ist dabei die Unbestimmtheit der gemalten
Szenerien: Sie lassen unten und oben, Schwere und Spannung
hinter sich, bewegen sich in Unruhe, um neue Räume aufzu-
spannen. Die Schnelligkeit, die das Medium der Tuschemalerei
fordert, passt zu den Emotionen, die die Künstlerin abbildet:
Es ist eine Welt von prekärer Schönheit und Vagheit, die
Räume für die eigene Wahrnehmung und die Gefühle des
Augenblicks eröffnet.

Die Künstlerin konfrontiert diese assoziativen Erzählungen
in Pinsel und Tusche mit den fotografischen Bildern von
Phänomenen, die sie faszinieren. Zum ersten Mal zeigt
Irène Wydler Fotografien aus den letzten fünfzig Jahren, also
aus der ganzen Zeit ihres vielschichtigen Schaffens. Auch diese
könnten wie die Tuschearbeiten als «Notate»
des künstlerischen Blicks bezeichnet werden. Dennoch setzen
sich die fotografischen Bilder auf den ersten Blick selbstbewusst
in starken Kontrast zu den Malereien, und sie behaupten, die
Welt zu zeigen, wie sie ist: fixierte Momentaufnahmen mit den
harten Konturen der Wirklichkeit. Wir erkennen Berge, Pflanzen,
Häuser, Industrierelikte. In vielen der Fotografien scheinen
jedoch Geheimnisse auf: Wo stehen denn diese Industrietürme,
die Irène Wydler als schwarze Liniengerüste festhält, wer hat
diese Planken zu einem brüchigen Schiffsbug gefügt, was befindet
sich hinter Zäunen und Texturen an anderen Welten? Viele der
Orte und Objekte auf den Fotografien sind zudem längst
vergangen, verloren, vergessen, und sie gewinnen gerade
dadurch ihre Dichte und Rätselhaftigkeit.

Auf den ersten Blick scheinen also Fotografie und Malerei nichts
miteinander zu tun zu haben. Und doch wird in der
Gegenüberstellung der gemalten Bilder und der fotografischen
Augenblicke eines deutlich: Kunst schaffen heisst immer wieder
neue Perspektiven entwickeln, immer wieder mit der eigenen
Haltung der Welt, den eigenen Emo¬tionen und den Medien der
Fotografie oder Malerei zu begegnen. Egal ob Industrie, textile
Strukturen, Naturobjekte oder Menschen auf den Fotografien
erkennbar sind, ob sich Schilfrohre auf den Tuschearbeiten vor
dem See biegen, die sehr unterschiedlichen Werke sind Artefakte
der künstlerischen Arbeit, sichtbar gemacht für uns.

Die Fotografien und Tuschearbeiten kommen bei aller Differenz
im Blick der Betrachtenden zusammen, sie verbinden Zeiten und
Orte aus dem Leben von Irène Wydler. Es entsteht zwischen
Tuschemalerei und Fotografie ein schwarz-weisser Dialog, der
von Doppeldeutigkeiten und dem Aufblitzen des Fremden im
Vertrauten lebt, der von Alltag und grossen Gefühlen erzählt.

So beschreibt die Künstlerin die Arbeit im Atelier oder beim
Erkunden der Welt draussen: Sie schichtet Orte, packt flüchtige
Momente und verdichtet Landschaften aus den Strömen des
Vorüberziehens. Was beiläufig verschwinden könnte, wird zu
einer Abfolge von Augenblicken, die Formen der Kunst annehmen
und uns Welten hinter dem Sichtbaren sehen lassen.

Gabriela Christen 2022

in: Irène Wydler - Notate, Edizioni Periferia, 2022